Ghana – Protzige Autos, schicke Anzüge und Taschen voller Geld: Im Drama „Borga“ widmet sich der Regisseur York-Fabian Raabe dem ghanaischen Phänomen des „reichen Onkels aus dem Ausland“. Im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Thompson Gyedu Kwarkye schauen wir von 23 Grad auf die Beweggründe, weswegen junge Ghanaer:innen ihre Heimat und Familien verlassen.
Von Steffen Buchmann
Thompson Gyedu Kwarkye wuchs in einer Kleinstadt in der Ashanti-Region im Süden Ghanas auf, etwa 50 Kilometer von Ghanas zweitgrößter Stadt Kumasi entfernt. Nach seinem Bachelorabschluss in “Political Science” an der University of Ghana in der Landeshauptstadt Accra und einem Masterstudium in Dänemark promovierte er 2022 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main mit einer Doktorarbeit zum Thema “Women in Local Governance. Exploring the Roles of Women Traditional Leaders in Improving Human Security at the Local Levels in Ghana“.
(Quelle: privat)
Was genau ist ein Borga?
Kwarkye: Mein Vater hat es mir so erklärt: In den 1970er und 1980er-Jahren sind viele Menschen zum Arbeiten von Ghana nach Hamburg gereist. Als sie dann zu Weihnachten oder Ostern zurückkamen, sagten die Leute immer: „Oh, die Hamburger sind da“. Hieraus entstand dann die Kurzform „Borga“, was für Ghanaer steht, die zum Arbeiten nach Europa oder andere westliche Länder reisen – etwa Deutschland oder Großbritannien – oder sogar bis nach Nordamerika.
Im Film „Borga“ beschreibt der Regisseur auch eine gewisse Sehnsucht von jungen Ghanaer:innen, die sie ins scheinbar verlockende Ausland zieht. Woher rührt diese?
Kwarkye: Die Menschen in Ghana träumen davon, gut bezahlte Jobs zu finden. Für diesen Traum verkaufen viele Familien auch alles, was sie haben. Während meiner Zeit in Dänemark wollte ein Freund von mir ebenfalls nach Europa kommen, nämlich in die Schweiz. Er hat alles verkauft, was er besaß – auch seine beiden Autos, um das Visum und die Reise zu bezahlen. Zusätzlich musste er auch einen Bankkredit aufnehmen. Trotzdem musste er die Schweiz nach Ablauf des Visums wieder verlassen. Als ich ihn letztes Weihnachten in Ghana wieder traf, erzählte er mir, dass er immer noch davon träumt, eines Tages wieder nach Europa zurückzukehren. Erst kürzlich habe ich eine Umfrage gelesen, die besagt, dass 70 Prozent der jungen Ghanaer aus Arbeitsgründen nach Europa reisen wollen. Daraus kann man sich ableiten, wie groß die Sehnsucht nach gut bezahlten Jobs und die Verzweiflung bei vielen Menschen in Ghana ist. Ab und an bekomme ich auch Nachrichten und E-Mails von jungen Ghanaern, die mich um Unterstützung oder hilfreiche Kontakte bitten. Ich muss dann jedoch immer erklären, dass ich ihnen nicht helfen kann.
Im deutsch-ghanaischen Filmdrama „Borga“ wachsen die beiden Brüder Kojo und Kofi auf der Elektroschrott-Müllhalde Agbogbloshie vor den Toren von Ghanas Hauptstadt Accra auf. Dort verdienen sie den Familienunterhalt durch das gefährliche Ausschlachten von entsorgten Elektrogeräten. Als Kojo eines Tages einem Borga aus Deutschland begegnet, hegt er selbst den Traum, im Ausland zu einem reichen Mann zu werden. Die Hauptrollen spielen Eugene Boateng, Adjetey Anang, Lydia Forson, Jude Arnold Kurankyi und Christiane Paul. Unter der Regie von York-Fabian Raabe (ebenfalls Drehbuch, zusammen mit Toks Körner) drehte das Team an Schauplätzen in Ghana und Deutschland in vier Sprachen – darunter die beiden ghanaischen Sprachen Twi und Ga. Der Film wurde mehrfach prämiert, darunter u.a. mit dem “Max Ophüls Preis 2021” im Wettbewerb für den besten Spielfilm und die Auszeichnung für den besten gesellschaftlich relevanten Film.
Für die Arbeit im Ausland müssen viele junge Menschen ihre Familien und Freunde zurücklassen. Welchen Stellenwert hat die Familie in Ghana?
Kwarkye: In vielen Teilen Ghanas leben wir in einem ganzen sozialen Netz, das unsere Familie bildet. Dazu zählen nicht nur die direkten Verwandten wie Eltern und Geschwister, sondern auch Großeltern, Onkel, Tanten, Cousinen, Neffen und Nichten. Ein riesiges Unterstützungsnetzwerk. Daher ist die Familie sehr wichtig. Und nicht nur, weil man sozial miteinander agiert oder existiert. Als Individuum, wie etwa als Borga, hat man auch eine große Verantwortung gegenüber seiner Familie. Damit er im Ausland arbeiten kann, braucht er anfangs auch die finanzielle Unterstützung seiner Familie in Ghana. Ich konnte mein Auslandsstudium über Stipendien finanzieren, viele andere haben aber nicht solche Möglichkeiten. Damit sie im Ausland arbeiten und studieren können, müssen die Familien Grundstücke oder Eigentum verkaufen. Daraus wächst dann die Erwartungshaltung: Du musst es irgendwie schaffen, egal wie. Denn die Familie erwartet, dass du sie dann in der Zukunft unterstützen kannst – oft mit einem Vielfachen dessen, was sie investiert haben, um beispielsweise Kleidung oder elektronische Geräte zu kaufen. Deshalb leiden einige Ghanaer, die ich treffe, auch unter Versagensängsten. Denn wenn du versagst, brauchst du nicht nach Hause zu kommen. Deine Eltern werden sich vielleicht nichts anmerken lassen, der Rest des Umfelds wird jedoch enttäuscht sein und dich verurteilen. Deswegen stranden Borgas oft auch an Flughäfen oder Bahnhöfen, weil sie schlichtweg nicht nach Hause können. Für Familien in Städten, beispielsweise in Accra, hat sich diese Erwartungshaltung vielleicht durch die Digitalisierung und moderne Möglichkeiten verändert. Aber in ländlichen Regionen wie meiner Heimatstadt findet man oft noch diese alten Familienbilder.
Das sind große Opfer, die Familien für eine stabilere Zukunft aufbringen müssen. Wie kommt es, dass eine Zukunft als Borga trotzdem für viele so verlockend klingt?
Kwarkye: Borga ist zwar ein geläufiger Begriff unter Ghanaern, unter „echten“ Borgas verstehe ich jedoch etwas ganz Spezielles. Das sind für mich Menschen, die nur alle drei Jahre nach Hause kommen können. Sie studieren nicht, sondern arbeiten meist als Putzkräfte in der Gastronomie oder im Hotelgewerbe – alles Jobs, in denen sie schnell Geld verdienen können. Wenn sie dann zurück nach Ghana kommen, fallen sie oft durch schicke Autos und Kleidung auf, genau wie im Film. Sie übernehmen aber auch eine gewisse Verantwortung und teilen das Geld mit ihrer Familie und Freunden, laden sie zum Essen oder Trinken ein. Aus diesem Auftreten schlussfolgern dann viele andere Ghanaern, dass die Borgas reich sind, weil sie im Ausland arbeiten – und wollen es ihnen nachmachen.
Was sehen Sie als Hauptgründe für diese Entwicklung?
Kwarkye: Der Hauptgrund für viele Menschen aus Ghana, ihre Heimat verlassen und im Ausland arbeiten zu wollen, ist oft ein wirtschaftlicher. Ob als Lehrer, Krankenschwester oder Selbständige: Das Geld, das sie zuhause verdienen, reicht nicht zum Leben aus. Mit dieser ökonomischen Herausforderung sehen sich viele Menschen in ganz Afrika konfrontiert, weshalb sie nach Möglichkeiten im Ausland suchen, um schnell Geld zu verdienen. Viele glauben, das Geld würde in Europa auf Bäumen wachsen und sie müssten es nur aufsammeln und nach Hause bringen. Doch sie unterschätzen die schwierigen Arbeitsbedingungen etwa in Deutschland oder in den Niederlanden. Einen anderen Grund sehe ich jedoch auch in den sozialen Strukturen. Die Borgas kommen nach Hause und repräsentieren durch ihr schickes sowie wohlwollendes Auftreten einen „Lebensstil des Geldes“. Dadurch entsteht dann bei Anderen der Eindruck, dass dieser Lebensstil erstrebenswert sei und sie ebenfalls durch Arbeit im Ausland ihren sozialen Status aufwerten und anderen präsentieren müssten.
Im Film zeigt Raabe auch die Schattenseiten des Borga-Lebensstils auf, etwa das Menschen gegen ihren Willen als Drogenschmuggler eingesetzt werden. Womit hängt das zusammen?
Kwarkye: Gerade Anfang der 2000er-Jahre war die westafrikanische Region ein großer Umschlagsplatz für den Drogenhandel, der von Südamerika nach Europa herüberkam. So bildeten sich auch in Ghana oder dem Senegal Verkehrsknotenpunkte, von denen aus Drogen in europäische Länder geschmuggelt wurden. Und die Schmuggler verdienten natürlich gutes Geld damit. In einem Bezirk meiner Heimatstadt steht eine äußerst stilvolle und riesige Villa. Doch niemand aus dem Bezirk will dort wohnen, da die meisten wissen: Die Villa wurde mit Drogengeld gebaut. Deshalb steht es seit der Verhaftung des Besitzers vor 14 Jahren leer.
Das klingt wirklich nach einer filmreifen Geschichte. Lassen sich aus Raabes Spielfilm noch weitere Parallelen zur Realität ziehen?
Kwarkye: Ja, denn in Filmen wie „Borga“ werden oft Narrative bedient, die auf echten Lebensgeschichten basieren. Und ich kenne viele Menschen, denen solche Dinge passiert sind. So habe ich beispielsweise letztes Jahr einen Ghanaer getroffen, der in meinem Universitätsbüro als Reinigungskraft arbeitete. Während meiner Doktorarbeit war ich meist schon früh morgens im Büro, das ich mir mit einem Kollegen geteilt habe. Die Putzkräfte sind jedoch ebenfalls sehr früh am Arbeiten, da sie sich um das gesamte Gebäude kümmern müssen. Getroffen haben wir uns tatsächlich nur, weil mein Bürokollege sich eines Tages beim Verwaltungsleiter beschwert hatte, dass das Büro nicht ordentlich geputzt worden sei. Also wurde der Mann von seinem Vorgesetzten in unser Büro geschickt und musste noch einmal gründlich putzen. Danach kamen wir ins Gespräch und er erzählte mir von seinen Erwartungen, als er nach Deutschland kam. Er war Lehrer in Ghana gewesen und betrieb noch ein eigenes Geschäft, weshalb er gutes Geld verdiente. Doch jemand redete ihm ein, in Deutschland erwarten ihn noch bessere Aussichten, also kam er her. Er erzählte mir auch von seinem Bedauern, da er gerne nach Ghana in sein altes Leben und zu seiner alten Arbeit zurückkehren würde. Doch in Ghana wird dein Name aus dem Arbeitsregister gelöscht, sobald du Ghana dauerhaft verlässt. Du kannst deinen alten Job nur wieder aufnehmen, wenn du viel Kraft, Zeit und Geld investierst – was viele nicht haben und deswegen hier bleiben.
Definitiv eine harte Entscheidung, vor die man hier gestellt wird. Was müsste sich in Ghana und anderen afrikanischen Ländern ändern, damit Menschen erst gar nicht vor diese Wahl gestellt werden?
Kwarkye: Es muss von beiden Seiten an Lösungen gearbeitet werden, damit die Menschen ein besseres Leben führen können. So müsste es in Ghana möglich sein, mehr gut bezahlte Jobs zu finden, damit die Menschen ihre Familien versorgen können. So bekommt etwa ein Lehrer in Ghana 300 bis 400 Euro als Monatsgehalt. Ich denke nicht, dass das ausreicht, um eine Familie zu versorgen. Dafür müssen die wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden, etwa durch eine verbesserte Wirtschaftspolitik oder staatliche Förderprogramme. Es gibt zwar in einigen afrikanischen Ländern wie Ghana bereits solche Programme, aber das reicht noch nicht aus. Es müssen auch genügend Arbeitsplätze vor Ort geschaffen werden, denn nicht jeder Ghanaer möchte seine Heimat zum Arbeiten verlassen. Prognosen sagen, dass 2050 in Afrika doppelt so viele Menschen leben werden als heute. Die jungen Menschen brauchen dann umso mehr Möglichkeiten, sich und ihre Familien gut zu versorgen.
Und was müsste sich im internationalen Kontext verändern, um eine bessere Zukunft für junge Migrant:innen zu ermöglichen?
Kwarkye: Wenn ich darauf schaue, was Deutschland oder die EU zu dieser Problematik beitragen können, sehe ich vor allem Bedarf an einer migrationsfreundlichen Politik und verbesserten Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt. Ich selbst sehe mich hier auch betroffen. Kürzlich hatte ich eine Diskussion mit einem Freund, der mich fragte, was ich nach meiner Promotion machen möchte. Ich sagte ihm, dass ich es nicht weiß. Ich hatte mich für zahlreiche Jobs beworben, habe Bewerbungsgespräche geführt, bisher jedoch erfolglos. Vielleicht bin ich die Sache auch etwas naiv angegangen. Aber ich hatte das Gefühl, dass meine Qualifikationen nicht als gleichwertig angesehen wurden. Und das, obwohl ich hervorragende Zeugnisse, Lebensläufe und Projekte mit diversen Kollegen vorlegen konnte. Deshalb finde ich es persönlich sehr wichtig, dass sich die westliche Migrationspolitik hier verändert und Menschen aus anderen Ländern mehr unterstützt. Das betrifft beispielsweise die Arbeit der GIZ [Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit], über die Migranten Trainings für zukünftige Tätigkeiten als Entwicklungshelfer oder ähnliches besuchen können. Jedoch sind die Kapazitäten nur begrenzt, sodass von 100 Bewerbern letztendlich nur rund 20 gefördert werden können. Aber was passiert mit den abgelehnten 80 Personen? Sie müssen dann hierbleiben und auf dem Arbeitsmarkt um einen Job kämpfen. Dabei sollte es Möglichkeiten für jeden geben, der sein Land mitgestalten und -entwickeln möchte. Hier muss sich in Zukunft noch vieles verändern.
5 Fakten über Ghana
- In Ghana werden Männer und Frauen nach dem Wochentag benannt, an dem sie geboren werden.
- Ghana war ab 1820 eine britische Kolonie und schaffte es 1957 als erstes Land aus dem Subsahara-Raum, sich von der Kolonialherrschaft zu befreien.
- Von den britischen Kolonialherren wurde Ghana aufgrund der vorhandenen Bodenschätze meistens nur “gold coast colony” (zu deutsch “Goldküste”) genannt.
- Trotz 30 Millionen Einwohnern gibt es in Ghana nur zwei Großstädte mit mehr als 400.000 Bewohnern (Accra und Kumasi mit jeweils 2 Millionen).
- Obwohl es über 70 verschiedene Sprachen und Dialekte in Ghana gibt, ist Englisch die offizielle Amtssprache.