Die Trinkgeldkultur ist überlebenswichtig für viele Dienstleister:innen weltweit, denn oft reichen die Löhne nicht aus für Lebensmittel, Bildung und Medizin. Doch haben Sie auch der Näherin ein Trinkgeld gegeben, die ihr neuestes T-Shirt zusammengenäht hat? Hier soll die Plattform Tip me Abhilfe schaffen, deren Funktionsweise und Ziele sich unsere 23Grad-Redaktion mal genauer angeschaut hat.
Wir geben unseren Kellner:innen, Friseur:innen und Taxifahrer:innen Trinkgeld. Aber den Menschen, die unsere Kleidung auf der anderen Seite der Welt nähen, nicht? Die Frauen und Männer, die gerade einmal drei Prozent des Kaufpreises erhalten. Sie schneiden, nähen, sticken, weben und kleben, damit wir unser neues, trendiges Kleidungsstück in den Händen halten können. Während wir uns beschweren, dass alles teurer wird und ein normales T-Shirt 29,99 Euro kostet, verdienen sie daran gerade einmal knappe 90 Cent.
Viele Firmen haben bereits reagiert und produzieren deshalb fair Fashion. Dadurch wird den Näher:innen ein menschenwürdiges Arbeitsumfeld geboten und ein fairer Lohn gezahlt. Ein Schritt in die richtige Richtung. Tip me geht aber noch weiter – einen Schritt in Richtung globale Gerechtigkeit. Das 2018 gegründete Unternehmen vernetzt Produzent:innen und Konsument:innen indem online ein Trinkgeld zur Bestellung hinzugefügt werden kann. Der Gründer und CEO Jonathan Funke besuchte alle Arbeitnehmenden von Tip me und konnte von Beginn an die Reaktionen dazu sehen: „Das ist so eine dolle Wertschätzung für die Menschen, ein Dankeschön zu bekommen vom anderen Ende der Welt. Sie fühlen sich respektiert für die Arbeit, die sie machen und genau das ist die Idee hinter dem globalen Trinkgeld.“
Mehr als nur ein Trinkgeld
Das Konzept unterscheidet sich dabei maßgeblich von einem Spendensystem. Denn Spenden kreieren eine Hierarchie, bei der sich die Empfänger:innen abhängig von ihren Geber:innen fühlen. Bei Trinkgeld hingegen wird die geleistete Arbeit anerkannt und die Arbeitenden motiviert. Statt einer großzügigen Mitleidsspende gibt es einen wertschätzenden Bonus. Den können die Arbeitnehmenden nach Belieben verwenden. Nusrat aus Sialkot (Pakistan) kann damit beispielsweise die Schulbildung ihrer Kinder bezahlen: „Receiving tips on top makes it possible for my family to live well.“ Noor Hussain aus Pakistan würde gerne einmal Deutschland besuchen, teilt aktuell aber das Trinkgeld mit seinen Töchtern. „My daughters are so excited to get pocket money from the tips I have received.“ Und Muhammad Zaigham hat seine 7.156 Pakistani Rupees (36 Euro) zuerst für neue Schuhe für das Fastenbrechen ausgegeben und im Anschluss die Stromrechnung seiner Familie bezahlt. „I was so worried about the electricity bill, but today I am happy. I am paying the bill with the tip me money”, erzählt der 23-jährige Schuhmacher erleichtert.
Unsere Trinkgelder werden von den Empfänger:innen sinnvoll verwendet. Im Grunde ist der Bonus nichts anderes als eine faire Anerkennung. Schließlich profitieren deutsche Firmen – und somit auch die Konsument:innen – von der Produktion im Ausland. Vielerorts ist diese nämlich deutlich günstiger finanzierbar. So liegt das Lohnniveau in Ländern wie China, Indien oder Bangladesch deutlich niedriger als hierzulande. Mindestlöhne und andere Verpflichtungen, wie etwa Krankenkassenbeiträge von Arbeitgeberseite, machen die Produktion in Deutschland teuer. Im Ausland werden diese Aspekte meist ignoriert. Hinzu kommen Umweltstandards, die im globalen Süden meist umgangen werden können. Eine Produktion in Deutschland wäre deshalb ein viel größerer finanzieller Aufwand, den die Kund:innen schlussendlich mitbezahlen müssten.
“Unser Ziel ist eine Welt, in der gerechte Löhne selbstverständlich sind.”
Die Näher:innen profitieren zwar von den geschaffenen Arbeitsplätzen, leisten durch ihre fleißige Arbeit aber auch einen wichtigen Beitrag für uns Europäer:innen. Darauf macht Tip me aufmerksam und schafft eine Möglichkeit, sich auf Augenhöhe für die Mühen zu bedanken. Bis das ganze System aber erst einmal so einwandfrei lief, dauerte es. “Die Welt verändern bedeutet EINE MENGE Papierkram”, gesteht Funke. Aber es hat sich gelohnt: 2020 konnten für die 200 Arbeiter:innen der Fairtrade Fabrik Talon Sports in drei Ländern über 10.000 Euro Trinkgelder gesammelt werden. 2021 wurden dann 2.537 Euro an den Partner dawn denim in Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam) übermittelt. “Es gibt SO viele gute Menschen, die Kleidungshersteller:innen unterstützen möchten”, freut sich der CEO von Tip me.
Durchschnittlich geben die Kund:innen vier Euro Trinkgeld. Es besteht aber online die Wahl zwischen ein Euro, drei Euro und fünf Euro. Dieses Geld landet dann auf einem deutschen Konto und wird einmal im Monat fair zwischen den Arbeiter:innen aufgeteilt. Wer mehr Stunden gearbeitet hat, bekommt somit mehr Trinkgeld ausgezahlt. Der Bonus wird den Arbeitenden dann direkt aufs Handy überwiesen. Zur Abholung können sie nach Feierabend zu ihrer lokalen Bank oder einem Kiosk gehen. Nach Vorlage ihres Mobiltelefons und ihrem Ausweis wird ihr Fingerabdruck überprüft und ihr Trinkgeld bar auf die Hand ausgezahlt. Bei diesem kompletten Vorgang gibt es keine Abgaben. 100 Prozent des Trinkgeldes kommt bei den Zielpersonen an. Doch wie kann sich dabei das Tip me-Team finanzieren?
Hinter der ganzen Idee steckt eine eigene Software. Diese stellen die Gründer:innen den teilnehmenden Shops für eine monatliche Nutzungsgebühr zur Verfügung (150 Euro pro 1.000 Arbeiter*innen). Diese sehen darin wiederum eine Bereicherung für ihren Onlineshop. „Sie brauchen neue, innovative und emotionale Geschichten, die ihren Kund:innen im Gedächtnis bleiben“, erklärt Mitgründer Oliver Sonnenwald. Tip me fördert das Vertrauen von (Neu-)Kund:innen durch Geschichten echter Menschen. Somit erfüllen sie für die Partnerbrands auch eine Marketingstrategie, für die sie zusätzlich eine Provision für Traffic, Neukund:innen und Kundenbindung erhalten (zwei Prozent des Warenkorbwertes jeder Bestellung und 15 bis 25 Prozent des Verkaufswerts). Zusätzlich gibt es aktuell 126 Investor:innen, die in das Start-up investiert haben.
Gemeinsam in Richtung Zukunft
Das Unternehmen ist noch nicht am Ende mit der Entwicklung. Weitere Ideen sollen mit der Zeit umgesetzt werden. Wie zum Beispiel eine live-Verfolgung des gegebenen Trinkgeldes. Dadurch würden wir per Mail – vielleicht sogar per WhatsApp oder Telegram – eine Benachrichtigung bekommen, wo sich unser Geld befindet, wann es angekommen ist und wofür es ausgegeben wurde. Das stärkt den persönlichen Bezug und die Bindung. Mit der Zeit sollte auch ein größerer Markt erschlossen werden, denn bis jetzt gibt es nur neun Marken, mit denen Tip me zusammenarbeitet. Eines ihrer Ziele ist es, ihr Konzept nicht nur online, sondern auch offline in Modefilialen und -ketten anbieten zu können.
Das innovative Konzept bringt unsere Trinkgeld-Kultur in viele verschiedene Entwicklungsländer. Dabei entsteht ein globaler, nachhaltiger Austausch. Wir bekommen unsere geliebte Mode und erfahren mehr über die Arbeiter:innen, die hinter unseren Produkten stehen. Die Produzent:innen im globalen Süden erhalten dafür ein unterstützendes Trinkgeld und Wertschätzung. Insgesamt also ein Schritt mehr Richtung fairen Austausch.