Was Model United Nations sind und wie sie zur Politisierung von jungen Menschen beitragen: ein Interview von 23grad mit Jasmin Schoof und Sher Afghan Malik über ihre Erfahrungen.
Von Alina Schmidt
Die Vereinten Nationen (VN) sind ein Zusammenschluss von 193 Staaten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, internationalen Frieden und Sicherheit zu wahren. Um dies zu tun, agieren sie als Moderatoren, helfen Konfliktparteien und schaffen Bedingungen, unter denen der Frieden auch langfristig bestehen kann.
Armut und Hunger zu bekämpfen, Bildung zugänglicher zu machen und Geschlechtergleichheit zu fördern sind nur ein paar der vielseitigen Ziele der VN. In unterschiedlichen Räten, Organisationen und anderen Organen wird über Lösungen für internationale Konflikte und Probleme debattiert, verhandelt und gegebenenfalls Resolutionen beschlossen. Diese Resolutionen sind Beschlüsse, die Situationen bewerten und Forderungen zur Konfliktlösung beinhalten. Bis auf die Resolutionen des VN-Sicherheitsrats sind sie aber nicht völkerrechtlich bindend, sondern als Empfehlung zu verstehen.
Eine gemeinsame Resolution zu schreiben ist auch das Ziel von sogenannten Model United Nations (MUN). Hierbei handelt es sich um Planspiele, bei denen eine Gruppe Schüler:innen oder Studierende in die Rolle von Delegationen verschiedener Staaten schlüpft und aus der Perspektive dieser über internationale Konflikte debattiert und sich austauscht – genau wie bei ihrem realen Vorbild: den Vereinten Nationen. Dazu treffen Schüler:innen und Studierende aus verschiedenen Staaten aufeinander; die Unterhaltungen finden auf Englisch statt. Oftmals handelt es sich auch um einen Austausch, bei dem die Gastgeber:innen der MUN ihre Gäste beherbergen, ihnen die Stadt und Kultur zeigen.
In der Vorbereitung auf die MUN informieren sich die Teilnehmenden über den ihnen zugeteilten Staat und dessen Standpunkte zu den zuvor festgelegten Themen, wie beispielsweise Menschenhandel, Kriege oder die Welthungersnot. Nach einer Eröffnungszeremonie und den ersten Reden in der Generalversammlung, in der jede Delegation ihre Standpunkte zum Ausdruck bringt, teilen sich die Mitglieder der Delegationen auf verschiedene Räte auf. Genau wie bei den realen Vereinten Nationen gibt es nämlich neben der Generalversammlung auch Substrukturen, wie etwa den Menschenrechtsrat, den Sicherheits- und den Wirtschafts- und Sozialrat. In ihnen sitzen nicht alle Mitglieder jeder Delegation, so wie es in der Generalversammlung der Fall ist, sondern nur Expert:innen der jeweiligen Landesvertretung. Über mehrere Tage hinweg wird in diesen Räten diskutiert, Bündnisse gebildet und an Resolutionen gearbeitet. Letztere werden zum Abschluss erneut in der Generalversammlung präsentiert und diskutiert. Zuletzt stimmen die Delegationen über eine Verabschiedung ab.
Unser Interviewpartner Sher Afghan Malik hat bereits an mehr als 90 Model United Nations teilgenommen oder dabei geholfen, sie zu organisieren. Der Pakistani hat drei Studienabschlüsse, arbeitet derzeit als Anwalt und unterrichtet Public Speaking und Debattieren an Universitäten und Privatschulen. Während Malik im Folgenden von seinen Erfahrungen als Organisator von Model United Nations berichtet, erzählt unsere zweite Interviewpartnerin, die 21-jährige Jura-Studentin Jasmin Schoof, von ihren Eindrücken als Teilnehmerin an sechs MUNs während ihrer Schulzeit.
Zu Beginn wäre es toll, etwas mehr über Ihren Einstieg zu wissen. Wie sind Sie auf Model United Nations gestoßen?
Malik: Das erste Mal, dass ich von Model UNs hörte, war durch eine Dozentin, die damals Studierenden MUNs näher brachte und sie simulierte. Später wurde ich Teil einer Delegation meiner pakistanischen Universität. Nach diesem Einstieg nahm ich an immer mehr und mehr Model UNs teil und wurde dann von der HundrED Foundation finanziert, um unter anderen an der EuroMUN teilnehmen zu können. Diese Reise und die internationalen Debatten haben wirklich mein Leben verändert. Es war also eine Kombination aus der Einführung durch meine Dozentin Andrea Fleschenberg und der Finanzierung, die mich zu den Model UNs führte.
Schoof: Die Model UN wurde am Tag der offenen Tür bei mir an der Schule vorgestellt, noch bevor ich dort Schülerin war. Mein späterer Politik- und Englischlehrer war dann auch der Leiter der Model UNs und hat dafür geworben, und dementsprechend habe ich mitgemacht. Und weil das eh an unserer Schule stattgefunden hat, wurde ich so begeistert, auch daran teilzunehmen. Hätte unsere Schule das Projekt also nicht vorgestellt, wäre ich vermutlich nie darauf aufmerksam geworden.
Und welche persönliche Beziehung haben Sie zu Model United Nations? An welche insbesondere positiven Erfahrungen können Sie sich erinnern?
Malik: Meine persönliche Beziehung zu MUNs fing an, indem ich das Ganze erstmal als lustige akademische Aktivität gesehen habe. Das war total anders als langweilige Arbeit im Unterricht. Was ich besonders mochte, war, dass ich dadurch viel reisen konnte. Als ich anfing, an Model UNs teilzunehmen, war ich nämlich noch Student und hätte ohne die Finanzierung gar nicht die Möglichkeit gehabt, durch Pakistan oder durch die Welt zu reisen. Und an den MUNs mochte ich besonders den kompetitiven Charakter und dass ich etwas lernen und networken konnte. Aus meiner jetzigen Perspektive als Lehrer ist es wiederum das Schönste, meinen Schülern etwas mit auf den Weg geben zu können. Ob mir das immer gelingt, ist etwas anderes. Und natürlich habe ich jetzt auch viele Freunde auf der ganzen Welt, die ich durch die MUNs wiedersehen kann.
Schoof: Ich mochte die Model UN immer. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht und es war immer eine gute Zeit. Man hat sich auch mit Leuten aus anderen Ländern und Kulturen ausgetauscht und es war eine Bereicherung dabei zu sein. Darum sind mir die Model UNs auch in guter Erinnerung geblieben. Ich habe durch die Model UN Austauschschüler aus Brasilien, Italien und Polen beherbergt und dadurch meinen Horizont erweitern, mich politisch weiterentwickeln und neue Freundschaften schließen können. Dabei habe ich besonders schätzen gelernt, wie sicher wir in Deutschland sind und in welchem Wohlstand wir leben. Ich habe also Einblicke in Kulturen, Sprachen, Verhaltensweise gewinnen und neue herzensliebe Menschen kennenlernen können.
Gab es auch Herausforderungen oder Schwierigkeiten?
Malik: Ein Problem, gerade bei der Arbeit mit pakistanischen Schülern, ist, dass hier durch die Propaganda viele Vorurteile in das Bildungssystem eingestreut werden. Deswegen ist die erste Hürde beim Lehren immer, dass ich den Schülern dabei helfen muss, diese Vorurteile zu überwinden. Ich versuche sie dafür zu öffnen, anders zu denken. Man muss ihnen zeigen, dass sich die Ansichten des Landes, über das sie recherchieren, von ihren eigenen unterscheiden. Auch die Finanzierung ist eine Herausforderung, weil MUNs in jedem Land und besonders international sehr kostspielig sind. Früher war das etwas anders, weil es weniger Model UNs gab und Spendenorganisationen mehr Geld für einzelne Veranstaltungen hatten.
Schoof: Eine Schwierigkeit war es, die Texte für die Reden selbst zu schreiben. Da hätte ich mir mehr Betreuung von den Lehrern gewünscht, aber andererseits gab es dafür vielleicht nicht genug Lehrkräfte. In dem Alter hat man nicht so viel Ahnung von Politik und geht an internationale Beziehungen vielleicht etwas naiver ran. Aber das ist wirklich ein kleiner Kritikpunkt, man stand ja nicht komplett alleine da. Allgemein hätte ich mir gewünscht, dass wir mehr über die Vereinten Nationen lernen. Vor allem war es eine große Herausforderung, eine eigene Resolution zu schreiben, weil man ja nebenbei auch noch andere Aufgaben für die Schule machen muss.
Welchen Mehrwert haben Model United Nations Ihrer Meinung nach für junge Menschen?
Malik: Das ist unterschiedlich für Schüler in verschiedenen Ländern, weil sich die Bildungssysteme unterscheiden. Zu erkennen, wie unterschiedlich auf der Welt gedacht wird, hat einen besonderen Mehrwert. Von Frauenrechten bis hin zu Demokratie – ich glaube, manchmal werden diese Dinge für selbstverständlich genommen. Durch die Model UNs wird den Schülern aber bewusst, wie wertvoll sie sind. Natürlich entwickelt man auch bessere Kommunikationsfähigkeiten und Schüler aus Ländern wie Pakistan werden mit Demokratisierung konfrontiert. Sie lernen demokratische Prinzipien und internationale Gesetze kennen und lernen über Rechte zu sprechen.
Schoof: Ich glaube, die Model UN ist für junge Menschen sehr wichtig und insofern bereichernd, als dass man neue Leute aus verschiedenen Ländern kennenlernt und mit denen über Politik und Eigenheiten ihrer und anderer Ländern reden kann und sie mit der eigenen Heimat vergleichen kann. Mit Brasilien und anderen Ländern als Austauschpartner ist das ein absolutes Plus. Man hat auch das Gefühl, dass man etwas Wichtiges tut. Das fördert die politische Bildung und den Charakter.
Sie haben es im Prinzip ja schon angerissen: Welchen internationalen politischen Einfluss haben Model UNs denn?
Malik: Sie zwingen Teilnehmer regelrecht dazu, sich mit anderen Denkweisen und Perspektiven auseinanderzusetzen. Networking mit Menschen aus anderen Ländern unterstützt das natürlich. Ich habe mit meinen pakistanischen Schülern erlebt, dass umso jünger sie bei einer Teilnahme an Model UNs sind, desto mehr werden sie davon beeinflusst und entwickeln ein globales Denken. Bei Studierenden ist es so, dass sie sich mehr Mühe geben, um eventuell Jobs in anderen Ländern zu bekommen. Außerdem neigen sie eher dazu, Freundschaften zu schließen und diese auch aufrecht zu halten. Andererseits haben Model UNs einen geringeren politischen Einfluss auf sie.
Schoof: Ich glaube, es hat immer etwas Positives, sich mit Jugendlichen aus anderen Ländern, besonders aus Europa, auszutauschen, weil es meiner Meinung nach den Zusammenhalt zwischen diesen Ländern stärkt.
Hinweis: Jasmin Schoof ist eine Schulfreundin unserer Autorin und hat gemeinsam mit ihr an Model United Nations teilgenommen. Beide Interviews fanden getrennt voneinander statt.