Auswandern – Einmal hin und (nie) wieder zurück

Sie sind keine Flüchtlinge. Aber sie haben den Traum von einem Leben in Deutschland: Shweta, ihr Mann Ray und ihre gemeinsame Tochter Bhavya. Die kleine Familie versucht seit vier Jahren von Indien nach Europa auszuwandern. „We are trying very hard but we don’t know what’s going on.“ 

Von Alisha Kopp

(Quelle: privat)

Zunächst versuchten sie, über einen indischen Freund nach Kanada zu gelangen. „In my country there are fake people. One of them give us fake invitation letter for Canada but then again lockdown in Canada.“ Daraufhin riet der vermeintliche Freund dem Paar, es in Deutschland zu probieren. Hier erhoffen sie sich ein besseres Leben für ihre Tochter. Shweta erzählt, dass sie und viele Bekannte glauben, Bhavyas Seele stamme aus einem europäischen Land und nicht aus Indien. Obwohl sie dort geboren ist, konnte sie früher Englisch sprechen als Hindi. Sie mag kein typisch indisches Essen und tut sich schwer, die traditionellen Bräuche zu akzeptieren. Raj und sie spüren, dass ihre Tochter sich in Faridkot nicht wohlfühlt. „We’re doing this all just for my daughter.“ Eine Entscheidung voller Liebe, Fürsorge und Verständnis – nicht unbedingt selbstverständlich. 

Shweta (Mitte) und ihre Familie. (Quelle: privat)

Ein zweiter Versuch

Shweta selbst hat weniger Verständnis oder gar Rücksichtnahme in ihrer traditionsbewussten und vaterrechtlichen Familie erlebt. Ihre Eltern suchten nach ihren eigenen Vorstellungen einen Mann für sie aus. Sie wurde verheiratet und bekam eine Tochter. „He wasn’t a good husband to me. He didn’t treat me well.“ Sie erzählt unter Tränen, dass sie sich für eine Scheidung und somit gegen ihre ganze Familie entschied. Seit dem Zeitpunkt, als sie ging, wurde ihr der Kontakt zu ihrer Tochter verboten. Stattdessen lebt das kleine Mädchen nun bei ihren Großeltern väterlicherseits. „I don’t know what they told her about me.“ Es ist ihr anzusehen, dass sie kaum Hoffnung hat, ihre Tochter jemals wieder zu sehen. Shweta macht deutlich, dass es geschiedene Frauen in Indien sehr schwer haben und sie an der schmerzvollen Trennung nichts ändern kann. Vielleicht möchte sie gerade deshalb für ihre zweite Tochter alles besser machen. Zusammen mit ihrem neuen, liebevollen Mann kann sie nach vorne schauen. „I am very, very blessed and thankful for my family.“ Raj teilt sogar ihren Wunsch, in ein anderes Land zu ziehen: „It’s not a safe place for girls in Delhi. You can’t go home alone. “ Dass eine Auswanderung so kompliziert wird, haben sie allerdings nicht erwartet. 

Dabei ist eine Auswanderung nach Deutschland alles andere als unmöglich. 17.840 Inder:innen zogen 2020 nach Deutschland. Kein neues Phänomen. Die Medien berichteten schon vor Jahren über die Einwanderung gut qualifizierter Inder:innen, die in Europa nach Arbeit suchen. Bereits vor über 20 Jahren versuchte die deutsche Regierung aktiv, indische IT-Spezialist:innen nach Deutschland zu locken und der damalige Präsident Joachim Gauck forderte 2014 zum Studium oder zur Arbeit bei uns auf. Mit einem sogenannten “job seeker visa” haben es auch Mayank und Arunima nach Deutschland geschafft. Seit drei Jahren leben sie hier und brachten sogar ihr erstes Kind zur Welt. Damit ihr Arbeitsvisum überhaupt genehmigt werden konnte, mussten sie vorab einiges nachweisen: einen deutschen oder gleichwertigen Abschluss mit mindestens fünf Jahren Erfahrung in diesem Bereich, einen Nachweis, dass die finanziellen Mittel den Aufenthalt in Deutschland abdecken und eine gültige Krankenversicherung. 

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Mayank und Arunima haben es geschafft.
(Quelle: privat)

Bürokratische Hürden

Trotz der vielen Bürokratie gab es für Mayank und Arunima ausreichend Gründe den großen Schritt zu gehen: „Best economy among Europe, world class medical facilities, almost free education, nature and heritage and work life balance with unlimited sick leaves.“ Um von diesen Vorteilen aber für einen langen Zeitraum profitieren zu können, muss in Deutschland zunächst ein Job gefunden werden. Wer nach sechs Monaten noch keine Arbeitsstelle vorweisen kann, muss zurück in die Heimat. Die beiden Eltern hatten Glück und können nun Deutschland ihr zu Hause nennen. Wer jedoch nicht die Kriterien für ein “job seeker visa” erfüllt, keinen Arbeitgebenden findet, der ausländische Arbeitskräfte sucht, nicht über seinen indischen Arbeitgebenden vermittelt werden kann oder keine Familie in Deutschland hat, wird es schier unmöglich haben nach Deutschland auszuwandern.

Doch nicht nur die Einreise nach Deutschland ist beschwerlich. Auch ein Umzug nach Indien birgt seine Hindernisse. Ohne familiären Hintergrund ist es für deutsche Staatsbürger:innen zwingend notwendig, eine Anstellung in einem indischen Unternehmen vorzuweisen. Mit einem “employment visa” können Einwander:innen einen Aufenthalt für bis zu zwei Jahre erhalten. Die Genehmigung hierfür ist jedoch gar nicht so einfach. Elisabeth Lorbeer lebt nun seit einem Jahr in Delhi und kennt die Situation vor Ort. „Die meisten anderen, die ich hier kenne, haben einen Entsendungsvertrag aus US- oder europäischen Firmen, der es ihnen einfacher macht, hier zu arbeiten.“ Diese bekamen von ihrem zukünftigen Arbeitgeber einen sogenannten “Letter of Appointment” ausgestellt, womit sie sich dann beim zuständigen Konsulat gemeldet haben. Problematisch ist aber ein von der indischen Regierung vorgegebener Richtwert. Dieser gibt vor, wie viel eine inländische Firma dem:r ausländischen Arbeitnehmer:in zahlen muss. Vor dieser Direktive scheuen sich viele Unternehmen. 

Elisabeth Lorbeer beim Meditieren.
(Quelle: privat)
Turbulentes Leben in Indien.
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Spürbare Unterschiede

Obwohl die Einreise über einen Arbeitsplatz bereits schwierig ist, gibt es so gut wie keine anderen Möglichkeiten. Die Option eines verlängerbaren Touristenvisums besteht nicht. Die maximale Aufenthaltsdauer beträgt wahlweise 30 oder 90 Tage. Selbst ein Visum für Ehepaare, wie das von Elisabeth, ist auf 180 Tage beschränkt. Dieses kann allerdings als Ehegatt:in immer aufs Neue verlängert werden. Um diese Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, musste sie ihren Pass, die Eheurkunde, die Meldebescheinigung aus Deutschland und den Pass von ihrem Mann beim Konsulat in München einreichen. All diesen Aufwand, obwohl Indien nie als Reiseziel auf ihrer Liste stand. Nur für ihren Mann ging sie diesen Schritt, der von Anfang an aber keine Dauerlösung sein sollte: „Wir leben jetzt in Delhi, aber werden hier nicht bleiben, sondern sind gerade auf dem Absprung nach Indonesien. Unser Plan war nie, gemeinsam länger in Indien zu leben.“ Mit der Zeit hat sich dieser Plan immer noch nicht verändert. Auch wenn die Familie ihres Mannes sie herzlich aufgenommen hat und ihr hilft, sich einzuleben, gibt es Situationen, die sie als europäische Frau immer noch abschrecken. „Du wirst als weißer Einwanderer hier an jeder Ecke abgezockt. Du zahlst gefühlt das fünffache vom Preis – sei es das Taxi, an der Straße, teilweise in Läden, wo keine Preise notiert sind. Du bist quasi immer die eierlegende Wollmilchsau für jeden, was mir inzwischen ein bisschen gegen den Zeiger geht.“ Sie glaubt, dass man Indien nur lieben oder hassen kann und es dazwischen nicht viel gibt. Die spürbaren Unterschiede zu Europa würden nur Unternehmer:innen oder Ehepartner:innen in Kauf nehmen: „Mir ist noch nie jemand untergekommen, der keine partnerschaftlichen oder Business-Vereinbarungen hat und auswandert.“

Über einen dieser Arbeitsverträge ist vermutlich die Mehrzahl der 408 Deutschen 2021 nach Indien gezogen. Das milde Klima, aufregende Landschaften, eine spannende Kultur, Religion und Optimismus: Aspekte, die auf den ersten Blick für Indien sprechen.  In der Realität scheint das Land dann allerdings an Attraktivität zu verlieren: 360 deutsche Auswanderern:innen kamen im selben Jahr wieder zurück in die Heimat. Die hohe Anzahl an Rückkehrer:innen rührt vermutlich vor allem von den aus Deutschland versetzten Arbeitenden, deren Arbeitsvertrag ausgelaufen ist. Elisabeth Lorbeer versteht die positiven Aspekte, die vermutlich die Arbeitenden hoffen, hier zu finden: „Ich glaube, manches ist definitiv einfacher. Man hat mehr Angestellte und es wird einem mehr abgenommen.“ Sie denkt aber dennoch, dass sich die deutsche Arbeitsweise auf lange Sicht merklich von der indischen unterscheidet. Dazu zählt, dass vieles umständlicher ist, alles überaus lange dauert und man sich viel in Geduld üben muss. „Indien lehrt einen wirklich geduldig zu sein, Sachen so hinzunehmen wie sie sind und die deutschen Tugenden beiseite zu schieben – anders wirst du hier wahrscheinlich nicht glücklich.“ Elisabeth ist es in Indien zwar nicht geworden. Doch wie auch Shweta und Raj sucht sie weiter nach dem Glück und ihrem ganz persönlichen Traumland.

5 Fakten zu Indien

– Der hinduistische Kalender in Indien hat sechs Jahreszeiten: Frühjahr, Sommer, Monsun, Herbst, Winter und zeitiger Frühling
– Mit knapp 40 Prozent hat Indien weltweit den größten Anteil an Vegetarier:innen in der Bevölkerung.
– Im Goldenen Tempel von Amritsar werden täglich 100.000 vegetarische Mahlzeiten kostenlos verteilt. 
– 70 Prozent aller Gewürze kommen aus Indien. Darunter auch die schärfste Chili der Welt.
– Verheiratete Frauen tragen in Indien einen Zierpunkt auf der Stirn, den man “Bindi” nennt. Auch Armreifen und sogenanntes Sindoor-Pulver symbolisieren den Familienstand. Letzteres soll überdies den Blutdruck kontrollieren und die Libido steigern. 

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